Internet umfasst mehr als das World Wide Web. Und
Journalismus mehr als den "Spiegel". Als Medium
der Gegenöffentlichkeit - so lautete der Begriff damals
- nutzen Journalisten die Internet-Dienste Chat, Mail und
News seit den Achtziger Jahren – acht bis zehn Jahre
vor der Erfindung des Web.
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Textfragmente im
UR-WWW: Als Nullen und Einsen noch nackte Buchstaben
formten. (Montage: ojour) |
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Freilich war das auch vor der Erfindung der grafischen Bedienoberflächen
für Computer. User tippten kryptische Befehle wie "B"
für Brett (Forum) oder "L" für Lesen;
Anhänge (Attachments) kamen, nachdem die entsprechenden
Standards erfunden waren, nur zögernd in Mode, weil kaum
jemals zwei Personen das gleiche Anwenderprogramm einsetzten.
Wer eine Mail mit mehr als 20 Kilobyte versandte, wurde virtuell
gesteinigt, wenn auch später sogenannte "Offline-Reader"
die teuren Telefongebühren senken halfen. Wer ein Modem
mit Übertragungsraten von 1.200 bit pro Sekunde besaß,
wurde beneidet, galt aber, weil die Postzulassung fehlte,
als kriminell – Standard waren sogenannte "Akustikkoppler"
mit 300 Baud. Schon aus Sparsamkeit beschränkte man sich
auf Journalismus pur: Text. Eine Chronologie.
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Akustik-Koppler:
Das "dataphon 2400 b" (Foto: Hooffacker) |
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1982
Amerikanische Journalisten und Schriftsteller träumen
von elektronisch vermittelter Basisdemokratie und einem weltweiten,
kostenfreien Wissens- und Informationspool. Jacques Vallee
beschreibt 1982, wie er Chat und E-Mail zum Informationsaustausch
mit seinem Freund Richard Bach ("Die Möwe Jonathan")
nutzt: Über eine "Rankenwerk-Alternative" von
Computern, die per Telefonnetz verbunden sind, wollen sie
eine kritische Öffentlichkeit herstellen.
1984
Die erste E-Mail aus den USA erreicht Deutschland über
den Vorläufer des Wissenschaftsnetzes.
1986
Über den Reaktor-Unfall in Tschernobyl berichtet im
Mai 1986 als eine der ersten die "Bayerische Hackerpost"
in ihrem Mailbox-System - zu einem Zeitpunkt, als Regierungen
und Medien den Vorfall noch herunterspielen.
1987
Als regelmäßigen, tagesaktuellen Informationsdienst
gründen vier junge Journalisten das Mailbox-Netz "Links".
In den folgenden Jahren unternehmen die Betreiber des rasch
wachsenden Netzwerks den wahnwitzigen Versuch, aus allen Nutzern
Journalisten zu machen: Sie sollen zwischen Information und
Meinung trennen und beides in getrennten Newsgroups veröffentlichen.
Das klappt allerdings nicht mal unter Zuhilfenahme technischer
Zwangsmaßnahmen.
1989
Die Bürgerrechtsbewegung der DDR nutzt im August 1989
Computer, die per Telefonnetz verbunden sind ("Mailbox-Netz"),
um Grundsatzerklärungen und Stellungnahmen per Mail und
News zu verbreiten. "Zentrale_Greif" nennt sich
die DDR-Gruppe nach einem Spitznamen der Stasi. In einem protestantischen
Pfarrhaus wird ein Laptop ans einzige Telefon weit und breit
gehängt, manchmal auch des Nachts an einen "offiziellen"
Telefonanschluss. Einige Male wandern auch Disketten zu einem
Theologen nach Hannover.
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Alles ASCII oder
was? (Screenshot: Hooffacker) |
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1991
Der Mailbox GlasNet in Moskau gelingt es 1991 während
des Putsches gegen Michail Gorbatschow, Lageberichte über
die Panzer vor dem Moskauer Weißen Haus in alle Welt
zu schmuggeln. Dabei hilft den Verfassern die dezentrale Organisation
des Netzes: Die Putschisten hatten die Auslandsverbindungen
gekappt, doch von Moskau gelangten die Datenpakete im Zwei-Stunden-Takt
über Weißrussland und Estland nach Helsinki, von
dort nach San Francisco und London, von dort über Hannover
nach München. Journalisten verbreiten die Informationen,
die sie auf diesem Weg erhalten, über Tageszeitungen,
Radio und Fernsehen.
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"Hauptsache
satt, Gesundes ist Luxus" - Lesekomfort anscheinend
auch... (Screenshot: Hooffacker) |
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1992
Während des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien
laufen über die Diskussionsforen der Mailboxnetze täglich
aktuelle Nachrichten in deutscher, serbokroatischer und englischer
Sprache. Der Journalist Wam Kat publiziert sein Tagebuch aus
Zagreb täglich online. Andere Absender sind Mitarbeiter
von Friedensgruppen in Belgrad oder Ljubljana aus dem "Zamir"-Netz
(serbokroatisch: za mir = für den Frieden); ihre Computer
heißen ZAMIR-ZG oder ZAMIR-BG. Sie sorgen für Kommunikation
zwischen den verfeindeten jugoslawischen Parteien.
1994
Als "Spiegel" und "Stern" online gehen,
bald auch die ersten öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten,
sind viele der frisch gebackenen Online-Journalisten bereits
alte Hasen: Sie haben schon lange vorher in den Newsgroups
von Compuserve, Usenet, Fido- oder Z-Netz Erfahrungen gesammelt.
Ein bisschen kommt man sich mit der schönen bunten Oberfläche
als Verräter vor – die Puristen stehen nach wie
vor auf ASCII-Text.
Heute dienen Newsgroups, Foren und Chats
vor allem der User-Kommunikation; Beiträge in Foren sind
meist meinungsorientiert. Weblogs, oft von Journalisten geführt,
haben die Tagebuch-Funktion der Newsgroup-Netze übernommen
und werden immer öfter auch durch digitale Fotos illustriert.
Onlinejournalistische Angebote stellen die kommunikationsorientierten,
usergenerierten Formen ganz selbstverständlich neben
die klassischen, von Journalisten verfassten Beiträge.
In Uni-Seminaren wird diskutiert, ob das nun Journalismus
sei oder nicht. Wie dem auch sei: Jedenfalls beginnt der Online-Journalismus
nicht erst mit dem "Spiegel" online.
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zum Dossier "Zehn Jahre Onlinejournalismus"«
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